Zwischen den Seen von São Paulo - Brasiliens emotionalste Rennstrecke und Sennas spirituelle Heimat
Autódromo José Carlos Pace - Technische Daten
Offizieller Name: Autódromo José Carlos Pace
Standort: São Paulo, Brasilien (Stadtteil Parelheiros)
Eröffnung: 12. Mai 1940
Streckenlänge: 4.309 km
Kurven: 15
Fahrtrichtung: Gegen den Uhrzeigersinn
Höhenunterschied: 35 Meter
Rundenrekord: 1:10.540 (Valtteri Bottas, 2018)
F1-Rennen seit: 1973
Kapazität: ca. 60.000 Zuschauer
Die Geschichte von Interlagos
Das Autódromo José Carlos Pace, besser bekannt als Interlagos, wurde am 12. Mai 1940 eröffnet und ist damit eine der traditionsreichsten Rennstrecken Südamerikas. Ursprünglich war die Strecke deutlich länger - die erste Version maß fast 8 Kilometer und führte teilweise über öffentliche Straßen im Stadtteil Parelheiros von São Paulo.
Der Name "Interlagos" bedeutet wörtlich übersetzt "zwischen den Seen" (portugiesisch: "entre os lagos") und bezieht sich auf die geografische Lage zwischen den beiden künstlichen Seen Guarapiranga und Billings. Diese malerische Umgebung verleiht der Strecke bis heute eine besondere Atmosphäre.
1973 kehrte die Formel 1 nach Brasilien zurück, und Interlagos wurde zum Austragungsort des brasilianischen Grand Prix. Emerson Fittipaldi gewann vor heimischem Publikum - der erste von vielen emotionalen Heimsiegen brasilianischer Fahrer. Der offizielle Name der Strecke ehrt seit 1985 José Carlos Pace, einen brasilianischen Formel-1-Fahrer, der 1977 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.
1990 wurde die Strecke aus Sicherheitsgründen drastisch umgebaut und auf die heutige Länge von 4.309 Kilometern verkürzt. Trotz dieser Modifikationen blieb der charakteristische, wellige Verlauf mit seinen Höhenunterschieden erhalten - ein Markenzeichen, das Interlagos von modernen, flachen Strecken unterscheidet.
Warum "Interlagos"? Zwischen den Seen
Die Rennstrecke liegt im Stadtteil Parelheiros im Süden São Paulos, eingebettet zwischen den beiden großen Stauseen Guarapiranga und Billings. Diese Lage prägte nicht nur den Namen, sondern auch die geografische Beschaffenheit des Geländes. Die wellige Topografie mit ihren Höhenunterschieden ist direkt auf die hügelige Landschaft dieser Region zurückzuführen.
Der Höhenunterschied von 35 Metern zwischen dem tiefsten und höchsten Punkt der Strecke mag auf dem Papier nicht spektakulär klingen, ist aber deutlich spürbar. Fahrer beschreiben das Gefühl, ständig bergauf oder bergab zu fahren, was die Streckenlektüre erschwert und zusätzliche Herausforderungen bei der Bremspunktfindung schafft.
Die Streckencharakteristik
Interlagos gehört zu den technisch anspruchsvollsten Strecken im Formel-1-Kalender. Die Kombination aus engen Kurven, schnellen Passagen, Höhenunterschieden und der ungewöhnlichen Fahrtrichtung gegen den Uhrzeigersinn macht sie zu einem echten Fahrertest.
Gegen den Uhrzeigersinn - Eine Seltenheit
Die Fahrtrichtung gegen den Uhrzeigersinn ist in der Formel 1 ungewöhnlich und stellt besondere Anforderungen. Während die meisten Strecken im Uhrzeigersinn befahren werden, bedeutet die umgekehrte Richtung in Interlagos, dass Fahrer mehr Rechtskurven als Linkskurven bewältigen müssen. Dies belastet die rechte Halsmuskulatur stärker und erfordert eine angepasste körperliche Vorbereitung.
Schlüsselkurven und Sektoren
Kurve 1 (Senna S): Der Start führt bergab in die berüchtigte Senna-S, eine schnelle Links-Rechts-Kombination. Hier entscheiden sich oft Rennen bereits in der ersten Runde, da die Innenbahn in der zweiten Kurve einen entscheidenden Vorteil für die folgende Bergaufpassage bietet.
Kurve 4 (Descida do Lago): Nach der Bergaufpassage folgt eine schnelle Linkskurve bergab zum "See-Abstieg". Diese Kurve wird mit über 200 km/h angefahren und erfordert präzises Anbremsen bei gleichzeitigem Gefälle - eine der technisch schwierigsten Stellen der Strecke.
Kurven 6-7 (Ferradura): Die Haarnadelkurve "Hufeisen" ist der langsamste Punkt der Strecke. Hier entscheiden sich Überholmanöver, da die lange Beschleunigungsphase danach ideale Voraussetzungen für DRS-Attacken schafft.
Kurve 12 (Juncão): Diese schnelle Linkskurve führt auf die Zielgerade und ist entscheidend für eine gute Rundenzeit. Die Traktion aus dieser Kurve bestimmt die Höchstgeschwindigkeit auf der Start-Ziel-Geraden.
Ayrton Senna - Die Seele von Interlagos
Keine Rennstrecke ist so eng mit einem Fahrer verbunden wie Interlagos mit Ayrton Senna. Der dreifache Weltmeister aus São Paulo betrachtete diese Strecke als seine spirituelle Heimat, und die Fans verehrten ihn wie einen Gott.
1991: Sennas emotionalster Sieg - Beim Heimrennen lag Senna komfortabel in Führung, als in den letzten Runden sein Getriebe versagte. Nur noch im sechsten Gang fahrend, kämpfte er sich über die Ziellinie. Der körperliche Schmerz, das Auto ohne Gangwechsel zu steuern, war so groß, dass er bei der Siegerehrung kaum die Trophäe halten konnte. Tränenüberströmt widmete er den Sieg seinem Land - ein Moment, der für immer in der Motorsport-Geschichte eingraviert ist.
1993: Der letzte Heimsieg - Zwei Jahre später siegte Senna erneut in Interlagos, diesmal für McLaren. Er sollte es sein letztes Heimrennen sein - ein Jahr später kam er in Imola ums Leben. Die Trauer in Brasilien war grenzenlos, und Interlagos wurde zum Wallfahrtsort für Senna-Fans weltweit.
Bis heute erinnern zahlreiche Elemente an Senna: Die erste Kurvenkombination trägt seinen Namen (Senna S), eine Bronzestatue steht am Eingang, und bei jedem Grand Prix werden brasilianische Flaggen mit seinem Konterfei geschwenkt. Interlagos ohne Senna ist undenkbar - er ist Teil der DNA dieser Rennstrecke.
Die einzigartige Atmosphäre
Interlagos ist berühmt für seine leidenschaftlichen Fans. Die brasilianischen Tifosi gehören zu den emotionalsten im gesamten Motorsport. Schon am Donnerstag strömen Zehntausende auf die Tribünen, verwandeln das Gelände in ein Farbenmeer aus gelb-grünen Flaggen und feiern ihre Helden mit einer Inbrunst, die ihresgleichen sucht.
Die Atmosphäre am Sonntag ist elektrisch: Samba-Trommeln, Gesänge, Rauchbomben in den brasilianischen Nationalfarben - Interlagos bietet ein sensorisches Erlebnis, das weit über ein normales Formel-1-Rennen hinausgeht. Fahrer schwärmen regelmäßig von der einzigartigen Stimmung, die sie nirgendwo sonst erleben.
Ein besonderer Moment ist die Ehrenufrunde nach dem Rennen: Sieger fahren traditionell eine langsame Runde, während Fans auf die Strecke stürmen und ihre Helden bejubeln. Diese Nähe zwischen Fahrern und Publikum ist in der modernen Formel 1 selten geworden, macht aber einen großen Teil des Charmes von Interlagos aus.
Unvergessliche Momente
2008: Hamiltons dramatischer WM-Titel
Das Rennen 2008 lieferte eines der dramatischsten Finales der Formel-1-Geschichte. Lewis Hamilton benötigte nur einen fünften Platz, um Felipe Massa den WM-Titel wegzuschnappen. In der letzten Kurve der letzten Runde überholte Hamilton Timo Glock, der auf trockenen Reifen im einsetzenden Regen zurückfiel. Hamilton wurde Weltmeister, während Massa - der das Rennen gewonnen hatte - in den heimischen Boxen bereits jubelte, nur um Sekunden später zu erfahren, dass es nicht reichte. Drama pur!
2012: Vettel und Hamiltons Kollision
Beim Start 2012 kollidierten Sebastian Vettel und Lewis Hamilton bereits in Turn 1. Vettel erlitt einen Dreher und fiel ans Ende des Feldes zurück. In einer Aufholjagd für die Geschichtsbücher kämpfte er sich auf Platz sechs vor - genug, um den Weltmeistertitel zu sichern. Hamiltons Traum vom zweiten WM-Titel zerplatzte.
2016: Verstappens Regenmeisterwerk
Der erst 19-jährige Max Verstappen zeigte 2016 eine der besten Regenfahrten der modernen Ära. Von Startplatz 16 kommend, pflügte er sich durch das Feld und überholte in spektakulärer Manier einen Gegner nach dem anderen. Sein dritter Platz galt als moralischer Sieg und bestätigte sein außergewöhnliches Talent.
2021: Hamiltons Meisterleistung
In einem der besten Rennen der Saison 2021 kämpfte sich Lewis Hamilton von Startplatz zehn (nach Disqualifikation im Qualifying) auf Platz fünf im Sprint und dann zum dominanten Sieg am Sonntag. Seine Überholmanöver gegen Verstappen waren lehrbuchmäßig und zeigten, warum er zu den Größten gehört.
Physische und technische Herausforderungen
Tropische Hitze und Luftfeuchtigkeit machen Interlagos zu einem der physisch anspruchsvollsten Rennen. Temperaturen über 30°C kombiniert mit hoher Luftfeuchtigkeit fordern Fahrern alles ab. Die ständigen Höhenunterschiede und der wellige Streckenverlauf verstärken die Belastung zusätzlich.
Die welllige Asphaltoberfläche stellt besondere Anforderungen an die Fahrzeugabstimmung. Teams müssen einen Kompromiss finden zwischen ausreichendem Abtrieb für die Kurven und einem weichen Setup, das die Bodenwellen absorbiert. Eine falsche Einstellung führt zu Untersteuern, Übersteuern oder im schlimmsten Fall zum Kontrollverlust.
Wetter-Unberechenbarkeit: Wie viele südamerikanische Strecken ist Interlagos anfällig für plötzliche Wetterumschwünge. Tropische Regenschauer können innerhalb von Minuten hereinbrechen und die Streckenbedingungen radikal verändern. Die Mischung aus Regen und den wellligen Höhenunterschieden macht die Strecke extrem rutschig und gefährlich.
Interlagos heute
Trotz ihres Alters und gelegentlicher Diskussionen über einen Umzug nach Rio de Janeiro bleibt Interlagos fester Bestandteil des Formel-1-Kalenders. Die Strecke wurde in den letzten Jahren kontinuierlich modernisiert, ohne ihren Charakter zu verlieren. Verbesserte Sicherheitseinrichtungen, modernisierte Boxenanlagen und bessere Zuschauerbereiche sorgen dafür, dass Interlagos den FIA-Standards entspricht.
Die traditionelle Terminierung als vorletztes oder letztes Saisonrennen gibt Interlagos oft zusätzliche Bedeutung. Mehrfach wurden hier Weltmeisterschaften entschieden, was die emotionale Intensität noch verstärkt. Für viele Fahrer und Teams ist ein Sieg in São Paulo besonders wertvoll - nicht nur wegen der Punkte, sondern wegen der einzigartigen Atmosphäre und Geschichte.
Felipe Massa (2006, 2008) und Lewis Hamilton (mehrfache Siege) sind die erfolgreichsten Fahrer der modernen Ära in Interlagos. Beide genießen einen Heldenstatus beim brasilianischen Publikum, wobei Massa als einziger Brasilianer nach Senna Heimsiege feiern konnte.